Umgang mit Krankheit und Erschöpfung - Ein Erfahrungsbericht

Yalda • 4. Februar 2021

Oder auch warum Selbstfürsorge in unserer Gesellschaft so wichtig ist.

Unsere Gastautorin Yalda hat vor ein paar Jahren einen Artikel geschrieben, der vielleicht heute aktueller denn je ist.

„Ein guter Lehrer ist in den Ferien krank“ – twittert SebA @warumisso unter dem Hashtag #Lehrerleben. Und ja, dieses Phänomen habe ich auch schon häufig beobachtet. Bei mir spielte es sich folgendermaßen ab: Sobald die Zeugnisse verteilt waren, meldete sich ein leichtes Kratzen im Hals, welches sich dann immer mehr zu einer waschechten Erkältung entwickelte. Dann lag ich die ersten Tage der Ferien im Bett – zugegebenermaßen: übellaunig und Serien schauend. (Übrigens: Ich rede hier absichtlich in der Vergangenheitsform, aber mehr dazu später). Verständlich, wenn man sich überlegt: durchpowern, bedeutet Vorbereiten ohne Ende (auch lange nach Schulschluss), ist mit Hormonen (z.B. Adrenalin) verbunden, welche die körpereigenen Signale überdecken (und das manchmal wochen- oder monatelang). Und schwuppdiwupp kommt in den Ferien alles wieder hoch. In LehrerInnenforen gibt es unzählige Diskussionen darüber, wer, wann, wie zu Hause bleiben sollte und sogar SchülerInnenkommentare sind im Netz zum Thema zur Schule gehen trotz Krankheit zu finden, wie z.B. folgender: 

„also mein lateinlehrer hatte immer die Eigenschaft mit schnupfe, husten, fieber und Halsschmerzen in die schule zukommen und hat dann alle 3 Minuten gehustet und so und das war ziemlich nervig für uns schüler und am ende wurde dann die hälfte der klasse auch noch krank ;D“ (Ich bitte darum Rechtschreibung und Grammatik an dieser Stelle zu ignorieren. Das ist der Originaleintrag ;)) (1)

Also von vorne
Krankheit bzw. Erschöpfung ist die Möglichkeit des Körpers Aufmerksamkeit und Ruhe zu fordern. Und wenn man ihm nicht zuhört, wird er dich genau wie ein quengelndes Kind immer deutlicher auffordern eine Pause zu machen, bis man ihm endlich zuhört. Dann ist es eben auch nicht hilfreich einfach nur Tabletten zu schlucken, sondern man sollte sich wirklich die Zeit nehmen, die es braucht sich zu erholen. Die Psychosomatik betrachtet stets den Menschen als Ganzen und nicht nur die eine Stelle bzw. das Symptom, die gerade erkrankt ist.(2) Wie oft habe ich mich vor dieser Erkenntnis, dass es mein Job ist, auf mich zu achten, zur Arbeit geschleppt, da ich befürchtete, dass meine KollegInnen mich für wenig leistungsfähig halten (das ist übrigens ein negativer Glaubenssatz) oder ich ihnen auch ganz praktisch gesehen nicht mehr Arbeit aufbürden wollte. Denn, was ich nicht leiste muss höchstwahrscheinlich von meinen KollegInnen aufgefangen werden. An anderen Schulen wirken hier andere Dynamiken. Beispielsweise müssen erkrankte LehrerInnen Material per E-Mail am Morgen ins Sekretariat schicken oder aber die Schulleitung tauscht die Stunden so geschickt, dass es gar nicht zu einem Ausfall, sondern bloß zum Vorziehen bestimmter Unterrichtseinheiten kommt. Meinem Vergangenen-Ich waren oben genannte Argumente, welche für meine Schule gelten, Grund genug, um mich in jeglicher Verfassung vor die Klasse zu stellen. Heute achte ich viel mehr auf mich, nutze auch mal den Ruheraum an unserer Schule, trinke jeden Tag mindestens 1,5 Liter Wasser, bin nett zu mir und mache häufig Mittagsschlaf, sodass ich bereits während des Schulalltags meinem Körper die Möglichkeit gebe sich zu erholen und nicht auf einem dauerhaften Stresslevel zu agieren. Somit habe ich die Möglichkeit mich und meinen Körper schneller wahrzunehmen, präventiv zu reagieren, sobald sich Signale für Krankheit bei mir einstellen und dann definitiv zu Hause bleiben. Jede und jeder hat da ja seine eigene ganz persönliche Top 3 von Symptomen, die der Körper häufig äußert, wenn die Krankheit im Anflug ist. Meine Top-3-Symptome sind: ein Kratzen im Hals, körperliche Erschöpfung und Kopfschmerzen. Meistens klingen diese nach einem Ruhetag, an dem ich übrigens auch nicht ans Telefon gehe, wenn mich KollegInnen anrufen, dann auch schnell wieder ab.
Viele Menschen in unserer Leistungsgesellschaft haben die Verbindung zum eigenen Körper verloren. Können Krankheits- oder Hungersignale etc. nicht erkennen, da sie nur am „leisten“ sind. Die Ferien werden dann zu einer Art notwendigen Regeneration für uns LehrerInnen. In anderen Berufsgruppen zeigt sich das gleiche Phänomen, wenn Menschen sich Urlaub nehmen. Lehrerinnen und Lehrer nutzen häufig die unterrichtsfreie Zeit, um zu gesunden. Ich bin überzeugt davon, das geht auch anders: mit Prävention Achtsamkeit und Selbstfürsorge, auch in (oder gerade in) stressigen Zeiten.

Warum denken viele ArbeitnehmerInnen, dass es egoistisch wäre zu Hause zu bleiben? Versuch einer Annäherung:
Woher kommt dieses kollektive Gefühl immer alles „leisten“ zu müssen, egal um welchen Preis? Erstens: Wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft und der Wert eines Menschen wird nach seiner Leistung gemessen. Hinzu kommen gesellschaftliche und persönliche Prägungen aus der Ursprungsfamilie. In der calvinistischen Arbeitsmoral – einer theologischen Bewegung des 17. Und 18. Jahrhunderts, die auch Deutschland stark geprägt hat – wurde Fleiß im beruflichen Kontext als höchste Tugend auserkoren und ein sich einstellender Wohlstand galt als Zeichen dafür, von Gott „erwählt“ zu sein.(3) Solche historischen Geisteshaltungen spiegeln sich noch heute in bestimmten Tugenden und Sprichwörtern wieder. Ich höre häufig von KollegInnen oder auch meinen Großeltern: „Es gibt nichts Gutes außer man tut es“ oder „was du heute kannst besorgen, verschiebe lieber nicht auf morgen“. Zwischen den Zeilen steht also: „Stell dich nicht so an und arbeite hart“. Eine Art von gesunder Selbstfürsorge bzw. auch gesundem Egoismus, im Sinne von „Ich kümmere mich um meine Bedürfnisse“, wurde vielen Menschen eher ab-erzogen. Nicht zu vergessen: Meine Großeltern bzw. Vertreter besagter Sätze entstammen der Kriegsgeneration, welche sich wenig „Schwäche“ eingestehen und erlauben konnte, da sie schlichtweg in einem finanziellen Überlebenskampf steckten. Im Angesicht der Zeit also eine verständliche Haltung. Heute leben wir in Deutschland Gott sei dank in Frieden und mit ausreichend Nahrungsmitteln und einer Grundversorgung, sodass gerade beschriebenes Mangelbewusstsein eigentlich nicht mehr von Nöten ist. Trotzdem steckt vielen von uns, das Gefühl in den Knochen, dass sich krank zu fühlen und dies auszuleben ein absolutes Zeichen von Schwäche sei. 

Wie es eigentlich ist
Durch Krankheit zeigt der Körper Belastungs- und Leistungsgrenzen auf, nicht mehr und nicht weniger. Mittel- bis langfristig gesehen ist der Mensch deutlich gesünder und im Grunde auch leistungsfähiger, wenn er bei „kleineren“ Krankheiten, bzw. Anzeichen des Körpers präventiv reagiert und somit den „größeren“ und „heftigeren“ Krankheiten vorbeugt. Wer beispielsweise eine Erkältung ignoriert, der bekommt häufig noch viel mehr oben drauf (möglicherweise eine Bronchitis oder gar eine Lungenentzündung). Dies wiederum wäre dann für eine Leistungsgesellschaft viel weniger tragbar, da es zu viel mehr Arbeitsausfällen führen würde. Aber das ist für mich nicht der tragende Grund, sondern es geht um Dich und deine Gesundheit, die unfassbar wertvoll ist. Und um deine SchülerInnen und KollegInnen die du mit deinem Verhalten anstecken könntest. Und du hast auch eine Vorbildfunktion für deine SchülerInnen und solltest ihnen am Besten zeigen, was Selbstfürsorge eigentlich bedeutet. Und bedenke dabei immer: Selbstfürsorge hat nichts mit Faulheit zu tun. Und vielleicht kennt ja der ein- oder die andere den netten Spruch, dass LehrerInnen alle faul sind, gefühlt das ganze Jahr Ferien und vormittags Recht und nachmittags frei haben. Dadurch kann natürlich auch unterbewusst der negative Glaubenssatz entstehen, dass du dann doch lieber zur Arbeit gehst. Eine der wichtigsten Studien in der Schulpädagogik von John Hattie, einem neuseeländischen Pädagogen, zeigt: 
Was Schüler lernen, bestimmt der einzelne Pädagoge. Alle anderen Einflussfaktoren – die materiellen Rahmenbedingungen, die Schulform oder spezielle Lehrmethoden – sind dagegen zweitrangig.“ (4, 5)

Das heißt selbstverständlich im Umkehrschluss, dass der Mensch, der hinter der Lehrperson steht, einen größeren Einfluss auf SchülerInnen hat, als jede(r) andere äußere Faktor. Da Schule eben so viel mehr ist als nur Wissensvermittlung, wirkt natürlich auf die SchülerInnen, was LehrerInnen in Bezug auf den Wert von Gesundheit und Selbstfürsorge vorleben. Wenn ich mich ganz ehrlich frage: Was passiert, wenn ich mal zwei Tage (auch in wichtigen Zeiten, z.B. kurz vor den Zeugnissen) zu Hause bleibe? Bricht dann im System Schule alles zusammen? Klare Antwort: nein! Keine Arbeitskraft ist unersetzbar und im System Schule gibt es genügend Puffer, auch wenn man vielleicht angesichts des LehrerInnenmangels etwas anderes denken mag. 

#TeamSelbstliebe
Du musst dir eins klar machen: Dein Job ist es auf dich zu achten und den SchülerInnen ein gutes Vorbild zu sein. Wer sich die kleinen Krankheiten zugesteht und sich selber schützt und sich ausruht, der ist meiner Ansicht nach stark. Stark, da er die Weisheit des Körpers kennt und vor allen Dingen stark, da er sich nicht mit dem Gedanken „was denken andere von mir?“ quält bzw. weil er besagten Gedanken losgelassen hat. Er ist stark, da er Grenzen setzt und für sich und sein eigenes Leben einsteht. Und sein wir mal ehrlich: du bist die Person, die Person, die am längsten mit dir aushalten musst. Die differenzierten, wertschätzenden KollegInnen (Menschen!) haben sowieso besseres zu tun, als über andere Menschen zu lästern und zu tratschen. 
Es wäre schön, wenn auch die Schulleitung bzw. dein Arbeitgeber oder deine Arbeitgeberin im Rahmen der Gesundheitsprävention selbstfürsorgliches Verhalten unterstützen würde. Im Grunde wäre das auch ihre Aufgabe, aber viele von uns haben eben nicht so fürsorgliche Vorgesetze, denn oft steht diese Aufgabe z.B. der Schulleitung in Konflikt mit anderen Verpflichtungen. Sie muss die Abdeckung aller Fächer für alle Klassen tagtäglich garantieren. Im Zweifel wird also niemand nach Dir schauen – außer Du nach dir selbst! 
In diesem Sinne darfst du ruhig einen gesunden „Egoismus“ entwickeln, um nach dir selbst zu schauen, wie auch immer das bei dir ausschauen mag. Sei es, dass du dir Pausen gönnst, Aufgaben ablehnst, bei Krankheit oder Erschöpfung zu Hause bleibst oder dir einen schönen Tee kochst. Selbstfürsorge hat viele Gesichter. Im Grunde ist all dies kein Egoismus, sondern lediglich nachhaltiges und ganzheitliches Denken. 

Quellen:
(1) https://www.gutefrage.net/frage/als-lehrer-erkaeltet-zur-schule (letzter Zugriff 09.08.18)
(2) R. DAHLKE: Krankheit als Sprache der Seele. Be-Deutung und Chance der Krankheitsbilder, Goldmann, 1997. 
(3) https://de.wikipedia.org/wiki/Calvinismus (letzter Zugriff 9.10.2018)
(4) https://www.zeit.de/2013/02/Paedagogik-John-Hattie-Visible-Learning/seite-2 (letzter Zugriff 8.10.2018)
(5) https://de.wikipedia.org/wiki/John_Hattie (letzter Zugriff 9.10.2018)