Was ich beim Reisen gelernt habe

Carolin • 3. November 2021

Warum dir Reisen den Geist öffnen kann

Ein paar Gedanken zu mir und warum dieser Artikel auch in einem Schulkontext wichtig ist

Ich bin aufgewachsen mit Eltern, denen es schon immer wichtig war – obschon sie mit den Berufen Maurer und Näherin zur Arbeiter:innenschicht gehörten und damit finanziell zur Mittelschicht – dass sie ihre freie Zeit genießen und auch uns Kinder ihre Leidenschaft (dem Reisen) näher bringen. Sie selbst sind durch die Erfahrungen, die sie beim Reisen gemacht haben, relativ weltoffen. Das erste Mal bin ich geflogen, da war ich ein dreiviertel Jahr alt. Mit 12 Jahren bin ich das erste Mal zu meiner Brieffreundin alleine ein paar Stunden durch Deutschland mit dem Zug gereist und mit 14 Jahren bin ich das erste Mal ohne meine Eltern oder sonstige Begleitung geflogen. Mit 16 war ich bereits auf allen Kontinenten (bis auf Südamerika und der Antarktis). Ich bin bereits alleine durch Europa (z.B. Interrail) gereist, bin 300 km Jakobsweg quer durch Spanien gelaufen und hab mir vor zwei Jahren einen Traum erfüllt und bin mit der transsibirischen Eisenbahn über 12000 Kilometer bis nach Hongkong mit dem Zug gefahren.

Ich habe heute natürlich einen deutlich differenzierten Umgang mit dem Thema Reisen, mit meinem ökologischen Fußabdruck, meiner Verantwortung der Umwelt gegenüber und meiner Privilegien, die ich als weiße Frau, die in einem Industrieland geboren wurde, automatisch habe (und auch da hab ich noch massive blinde Flecken und lerne täglich dazu. Aber das Leben ist auch Wachstum). 

Vielleicht geht es in diesem Artikel auch genau darum: um Privilegien, Dankbarkeit und der Reise zu sich selbst, einem ökologischen Fußabdruck und Flugscham und unter anderem Offenheit anderen Menschen gegenüber ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Du – der/die/dey diesen Artikel liest, sprichst ja auch deutsch, also lebst wahrscheinlich mit ähnlichen Privilegien wie ich. 

Es sind zudem ein paar Gedanken niedergeschrieben, warum es wichtig ist, über den eigenen Tellerrand zu schauen. Über den Tellerrand zu schauen ist insbesondere im Schulkontext wichtig, da wir anderen Menschen versuchen die Welt zu erklären, jedoch selbst nur Dinge aus unserer Sicht interpretieren. Du kannst beim Lesen daran denken, wie wichtig eigene Erfahrungen für Schüler:innen sind, da diese durch ihre Erfahrungen (in der Psychologie heißt das Introjektion) besonders gut Wissen vernetzen können und demnach auf tieferer Ebene lernen. Ich unterteile meine größten Learnings, die durch meinen schon frühen Zugang zu anderen Kulturen entstand, in verschiedene, unten stehende Punkte. Es ist wichtig zu sagen, dass die unten stehenden Punkte auch bei dir entstehen können, aber nicht müssen. Aber dazu komme ich noch.


Was ich durch das Reisen lernte:

1.    Weltoffenheit und Abbau von Vorurteilen als mögliche Resultate des Reisens 

Weltoffenheit wird im allg. Sprachgebrauch die Offenheit gegenüber anderen Kulturen gesehen. (1) Hierauf beziehe ich mich, da es diesen Punkt für mich sehr gut beschreibt. Durch das Reisen habe ich schon früh gelernt offen auf andere Menschen zuzugehen und andere Kulturen, Lebensweisen oder habe mir bisher unbekannte Arten des Umgangs miteinander gelernt. Ich habe gesehen, dass die Art wie ich aufwachse, nicht „normal“ ist und schon früh den Begriff „normal“ für mich ins Verhältnis gesetzt. Auch heute setze ich durch eigene Erfahrungen Dinge für mich ins Verhältnis und lerne jede Reise dazu. Hierzu eine vielleicht kuriose, aber witzige Geschichte, die mir einfällt: Als ich beispielsweise Chemie studierte, habe ich mich immer über die ständig kaputten Toilettendeckel und den Fußspuren auf den Toilettendeckeln vor den Laboratorien geärgert. Ich hab mit meiner Sicht auf Dinge angenommen, dass natürlich jede:r Mensch eine Toilette benutzt, wie ich sie – in Westdeutschland groß geworden – benutze. Als ich dann vor zwei Jahren in China war, lernte ich, dass es in China üblich ist (selbst die Schnellzüge sind so ausgestattet), dass es wie z.B. auf Raststätten in Frankreich sogenannte Stehtoiletten gibt, worüber man sich hinhockt. Letztes Jahr habe ich ein tolles Buch gelesen (Darm mit Charme von Guilia Enders (2)), in der die Autorin wissenschaftlich erklärt, wie schlecht eigentlich die westlichen Toiletten für unser „Geschäft“ sind und die Position bei Stehtoiletten zu deutlich weniger Hämorrhoiden führt, als z.B. bei Sitztoiletten, wie es in Deutschland üblich ist. Ich habe mich, als ich in China war, wieder einmal dadurch selbst ertappt und erneut festgestellt, dass meine Sicht der Dinge nur eine von vielen ist, jedoch nicht besser oder schlechter als andere. Ich habe danach auch verstanden, warum letztlich Fußspuren auf den Sitzen waren oder die Sitze ständig Risse aufwiesen. 

Später im Theologie-Studium lernte ich auf wissenschaftlicher Basis, dass sich durch die Erfahrungen mit anderen Menschen und Kulturen Ressentiments, Vorurteile und rassistische Strukturen abbauen können. Wenn man offen auf andere Menschen zugeht und die Erfahrungen positiv sind, verknüpft das Hirn auch automatisch positive Assoziationen mit dieser Kultur. Es introjiziert ein Bild, würde man in der Psychologie sagen. Auch wenn ich besagte Theorie für mich so bestätigen kann, ist dies nur eine Erklärung von vielen. Der Aufbau von Vorurteilen oder Rassismus kann genauso gut gefördert werden, denn ein Mensch, der viel reist, ist nicht automatisch frei von Vorurteilen oder Rassismus oder überträgt diese Sozialisierung auf den Umgang mit Menschen gleicher oder ähnlicher kultureller Prägung im eigenen Land. Hierzu sollte man sich eben mit der eigenen Sozialisierung, den eigenen Privilegien und den Resultaten der europäischen Geschichte (Kolonialismus etc.) auseinandersetzen. Hier kann ich das tolle Buch von Alice Hasters empfehlen (Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten (3)). Dazu aber später mehr. 

Die Art des Reisens kann selbstverständlich dazu beitragen, dass Menschen eher in ihrer eigenen Blase verweilen, anstatt sich auf das Land und die Menschen im Land wirklich einzulassen. So kann es sein, dass ein:e Mallorca-Urlauber:in (ich mache jetzt mal eine Schublade auf), die nur zum Alkohol trinken und Feiern nach Mallorca fliegt, deutsche Ballermann-Lieder trällert, deutsch spricht, da man dies auf Mallorca sehr gut kann (selbst die Beschilderung am Flughafen ist auf Deutsch) und sich den Rest der Zeit am Strand vorm Hotel hinfleezt, jedoch nichts von der Insel gesehen hat, wenig mit Menschen in Kontakt kommt oder sich mit der die mallorquinischen Geschichte auseinandersetzt und folglich nach der Reise nicht unbedingt sehr viel schlauer oder weltoffener ist, als vor der Reise. Ich möchte diese Art zu reisen überhaupt nicht bewerten (auch wenn sie nichts für mich wäre), jedoch möchte ich meinen Punkt an diesem Beispiel klar machen.


2.    Dankbarkeit als Resultat des Reisens oder auch der Privilegiencheck

Ein großer Punkt ist für mich das ins Verhältnis setzen eigener Privilegien im Vergleich zu anderen Ländern und die dadurch entstehende Dankbarkeit in einem reichen Industrieland wie Deutschland geboren zu sein. Durch das Reisen lernte ich schon in früher Kindheit, dass nicht alle Menschen so wie ich, in einem Haus mit Garten aufwachsen und deshalb nicht unbedingt unglücklicher sein oder abgewertet werden müssen. Ich lernte bereits in früher Kindheit Dankbarkeit zu verspüren für die Dinge, die mir als selbstverständlich erscheinen: fließendes Wasser, ein Dach über dem Kopf, eine funktionierende Infrastruktur und ein Rechtssystem, das in großen Teilen funktioniert mit einer Polizei, die man im Großen und Ganzen rufen kann, wenn Probleme auftauchen, auch wenn da selbstverständlich Verbesserungsbedarf besteht, oder ich natürlich als weiße Frau automatisch weniger rassistischen Ressentiments/strukturellem Rassismus unterliege, als z.B. eine Kopftuch tragende Frau mit einem nicht Deutsch klingenden Namen. Aber dafür muss man sich eben – wie oben genannt – mit seinen eigenen Privilegien und eben blinde Flecken nach und nach aufdecken auseinandersetzen.

Durch diese frühen Erfahrungen, die ich machte, setzen bei mir „Irritationen“ ein, die dazu führten, dass ich mich anderen gegenüber ins Verhältnis setzte und dankbarer wurde. Ich merke immer wieder wie viel in Deutschland gemeckert wird: über die Unpünktlichkeit, das Schulsystem, die Politik, Geschlechtergerechtigkeit, Nachhaltigkeit, den/die/dey Nachbar:in oder wasauchimmer. Ich merke auch selbst, wenn ich lange nicht mehr weg war, obschon ich täglich Dankbarkeit praktiziere, wie schnell ich in einen solchen Modus verfalle. Es gibt viele Dinge zu tun und es ist eben auch gut Probleme aufzudecken und zu benennen, jedoch ist es genauso wichtig sich selbst ins Verhältnis zu setzen und zu schauen, was eigentlich bereits funktioniert und eben gut läuft. Nur dadurch, dass man die Erfahrungen macht, dass es eben doch nicht so selbstverständlich ist, dass man zu seinen Eltern, die 500km weit weg wohnen, in knapp 3,5 h mit funktionierender Toilette fahren kann (heute gibt’s mal extra viele Toilettenbeispiele. Aber laut Maslows Bedürfnispyramide eben auch Grundbedürfnisse), weil man von der mazedonischen Grenze bis nach Belgrad ohne Toilette 12 h lang ausharren musste (und Mazedonien gehört zwar nicht zur EU, jedoch ist nicht so weit weg wie andere Länder mit ähnlich geringem BIP), dann weiß man, dass „normal“ und „selbstverständlich“ nur relative Begriffe sind. Durch eigene Erfahrungen habe ich am eigenen Leib meine Privilegien gespürt, aber auch eben gemerkt, dass es auch anders geht oder eben in anderen Ländern – wie man so schön sagt – andere Sitten herrschen. Heute mit dem Wissen über die Ausbeutung des globalen Südens durch den globalen Norden würde ich eher sagen: Andere Länder, andere durch wirtschaftliche Ausbeutung vorhandene Strukturen. Und damit komme ich zu einem weiteren Punkt:


3.    Improvisations- und Anpassungsbereitschaft

Wenn man Erfahrungen macht, die nicht dem eigenen gelernten Anspruch entsprechen und man sich auf das Land wirklich versucht einzulassen, lernt man schnell zu improvisieren und sich den Gegebenheiten anzupassen. Wenn es in der Mongolei in einer Jurte grad nur vergorene Stutenmilch zu trinken gibt, anstatt fließendes Wasser aus einem Wasserhahn – oder klassistisch gesagt: eine Soja-Alternative zu seinem handgeklöppelten Espresso-Macchiato aus einem hippen Café in Berlin-Mitte – dann ist das eben so. Anpassungs- und Improvisationsbereitschaft sind Grundvoraussetzungen fürs Reisen in andere Länder, die nicht unbedingt westlichem Standard entsprechen. Der Bus fährt doch nicht von der angegebenen Haltestelle oder nur unregelmäßig bzw. man weiß nicht ganz genau wann dieser nun kommt? Ok. Warten, andere Route auswählen oder eben Locals fragen. Vielleicht sogar nachfragen, ob jemand einen dann mit in die nächste Stadt nimmt. s

4.    Die Überwindung von eigenen Ängsten und Ausbau von Gelassenheit

Mit dem oben genannten Punkt ist dieser Aspekt verknüpft. Zum einen musste ich lernen offen auf andere Menschen zugehen, diese nach dem Weg zu fragen oder eben nach Tipps, die man nur von Einheimischen bekommt, auch wenn im Internet natürlich eine Menge steht. Hierzu lernte ich meine eigenen Ängste abzubauen und mich selbst zu überwinden. Insbesondere wenn ich als Frau alleine reist, musste ich mich anfangs überwinden Ängste, die vielleicht eben durch das Umfeld oder die Medien vermittelt werden, zu überwinden und lernen eigene (meistens zu dem vom Außen vermittelten Bild konträre) Erfahrungen zu machen. Zum anderen lernte ich Gelassenheit zu üben, nicht alles so ernst zu nehmen, Vertrauen aufzubauen, wenn z.B. oben genannter Bus nicht kommt, oder der Dolmus in Istanbul mit 100 Sachen durch kleine Gassen rast, ohne Türen oder Anschnallgurte. Somit komme ich zum nächsten Punkt:


5.    Der Anspruch-Check

Ich hatte hier schon ein bisschen in Punkt 3 und 4 darüber berichtet und letztlich greifen viele Punkte ineinander. Wir können nicht unseren Anspruch in Deutschland auf andere Länder übertragen (Hallo Ausbeutung durch den globalen Norden/Industrienationen). Das bedeutet zum einen, dass wir unseren Anspruch bzgl. z.B. fehlender Infrastruktur nicht auf andere Länder übertragen können, sondern auch unseren politischen und gesellschaftlichen Anspruch. Wenn man sich mit Menschen auf Reisen unterhält – und ich habe gelernt Menschen sind vielfältig – lernt man immer auch ein bisschen über sich selbst und die eigene Sicht der Dinge. Da kann man sich sonst noch so viel Persönlichkeitsentwicklungs-Psychologie-mäßig mit sich und seiner Grundstruktur und seinen Privilegien und auch Sozialisierungen auseinandersetzen: sowas lernt man nur im direkten Kontakt zu den Meinungen und Positionen anderer Menschen, die anders geprägt worden sind als man selbst. Wenn man sieht, wie z.B. in Tiflis (Georgien) Männer LGBTQIA-Fahnen abreißen, wenn dort die erste Pride-Parade geplant ist, Wohnungen verwüsten und dann dafür Nationalflaggen schwenken, kann man sich natürlich darüber Gedanken machen, ob Männer sich dort nicht eigentlich mit ihrer eigenen toxischen Männlichkeit und ihrer Sozialisierung auseinander setzen sollten, andere Menschen nicht einfach so lassen und sich für andere Menschen freuen könnten, anstatt diese fertig zu machen. Oder man wird sich (Bezug auf Punkt 2) seiner eigenen Privilegien und dem eigenen Anspruch an Gesellschaft bewusst. Wenn man merkt, dass viele Menschen mit denen man sich im Zug durch Russland unterhält, überhaupt noch nie was vom Klimawandel gehört haben (wollen) und einer davon (ist selbst häufig im Ausland) erklärt, dass die Regierung solche Informationen nicht medial darstellen möchte und das wahrscheinlich der Grund ist, warum viele davon keine Ahnung haben, wird man sich eben auch seinem eigenen Anspruch bewusst, der eigenen Privilegien und dankbar der eigenen Regierung gegenüber (auch wenn ich die letzten Regierungskonstellationen so nicht gewählt habe. Aber hey. Wir leben in einer Demokratie. It’s part of the system). Aus der eigenen Position heraus auf andere zu blicken, ist schwierig und häufig nicht übertragbar und muss es auch nicht immer (ok Klimakrise vielleicht eben schon).


6.    Dir wird immer geholfen, wenn du Hilfe brauchst und die Menschen sind im Grunde gut

Um jetzt nochmals auf Privilegien zurückzukommen: selbst ich als allein reisende Frau, die natürlich anderen Gefahren ausgesetzt ist, als allein reisende Männer, hab durchweg positive Erfahrungen gemacht (klopf auf Holz). Ein russisches Sprichwort besagt: mache dir erst selbst ein Bild, bevor du das Geschwätz anderer glaubst. Ich weiß noch, als ich vom Dorf nach Berlin zog und mir mein Umfeld einzureden versuchte, dass das ja eine ganz gefährliche Stadt sei und man definitiv aufpassen müsse. Auch wenn ich super cool reagierte und die Gedanken abzuwehren versuchte, setzten sie sich so weit fest, dass ich mich die ersten 3 Wochen nicht traute nach Einbruch der Dunkelheit aus dem Haus zu gehen. Heute lache ich darüber, aber es ist eben nicht immer einfach sich von seinem Umfeld frei zu machen. Und jetzt komme ich zum eigentlichen Punkt: Medien leben davon schlechte Nachrichten zu überbringen und bilden nie das eigentliche Bild ab. Gute Dinge, Hilfestellungen von Menschen in dem Land werden nicht berichtet, da sie keine Klicks bringen. Ein verzerrtes Bild entsteht, das Angst schürt und auch bei mir schürte. Jedoch habe ich andere Erfahrungen gemacht wie z.B. die netten russischen Soldaten, die mir Schokolade und Eis schenkten, da ich ja als Ausländerin Gästin in ihrem Land sei und man mit Gäst:innen gut umgehe; der griechische Wohnungsvermieter, der beim Bahnhof in Athen, ohne mich vorher zu fragen, anrief und checkte, ob ich am nächsten Tag mit dem Zug fahren könnte, da in der Nähe Athens ein Feuer ausgebrochen war und mich dann anrief und darüber informierte, dass ich sicher sei. Die freundliche Frau in Portugal, die mich – als ich etwas verloren schaute – den Weg zeigte, die freundliche Frau in China, die sich mit mir unterhalten wollte, da sie so interessiert an anderen Ländern war und mir dann die coolsten Tipps für Hongkong gab. Ich könnte hier ewig so weiter machen, aber you got my point.



7.    Der Aufbau von ökologischem Bewusstsein

Jetzt komme ich zum letzten Punkt, für mich (für die Erde sowieso) wichtiger denn je wurde: ökologischer Fußabdruck und Nachhaltigkeit. Wie ihr oben gelesen habt, bin ich schon sehr viel gereist und hatte bereits mit 16 einen ökologischen Fußabdruck, der mit dem vieler Menschen nicht vergleichbar ist. Mir wurde erst im Chemiestudium klar wie wichtig bewusstes Reisen ist, was ein ökologischer Fußabdruck ist und dass es eine Klimakrise gibt. Das alles hatte ich nicht in der Schule gelernt. Heute vermittle ich als Chemie- und Ethiklehrerin, die eine Masterarbeit über die Klimakrise schrieb, meinen Schüler:innen Wissen über Klimakrise und nachhaltiges Leben. Ich lebe mittlerweile selbst mit einem sehr niedrigen impact, plastikvermeidend, kaufe fast ausschließlich meine Kleidung 2nd Hand oder bei nachhaltigen Firmen oder fülle mir teils meine Lebensmittel in Unverpackt-Läden ab. Nach meiner Reise mit der transsibirischen Eisenbahn von Berlin über Moskau nach Hongkong beschloss ich erst einmal nicht mehr fliegen zu wollen. Vorher hatte ich bereits einen Interrail gemacht und reiste mit dem Zug durch Europa. Ein (Elektro-)Auto habe ich nicht und brauche ich in einer Großstadt wie Berlin auch nicht. Und während ich diesen Artikel schreibe, sitze ich auf Kreta und bin – tada – geflogen (hallo Doppelmoral). Ich denke wir müssen uns alle Gedanken darüber machen (insbesondere über die schon häufig erwähnten Privilegien) und dies auch an unsere Kids vermitteln, inwieweit man auf bestimmte Dinge verzichten oder vielleicht vermeiden kann. Individuell kann man schon eine Menge tun, mit dem Zug in den Urlaub reisen (nur eben nicht in einer weltweiten Pandemie), auf Flüge oder bestimmte Orte ganz verzichten oder eben sensibler werden. Nur hier liegt eben der Knackpunkt: systemische Probleme. Hier muss systemisch gehandelt werden und nicht der/die/dey Einzelne verurteilt werden. Ich denke nicht, dass ihr mich verurteilen würdet, dass ich meine Moralvorstellung und meinen eigenen Anspruch an mich und mein Umweltbewusstsein dieses Jahr über Bord geworfen habe, nachdem ihr wüsstest, dass ich eine lebensverändernde Diagnose erhielt, meine Eltern letztes Jahr fast gestorben wären und meine Mutter an Krebs erkrankte und gleichzeitig eine Pandemie war. Auch kann man Menschen nicht verurteilen, wenn sie einfach eine Pause brauchen, damit beispielsweise eine alleinerziehende Mutter, die das ganze Jahr durchgeackert hat und kaum Freiraum für sich selbst hatte, komplett durchdreht. Man weiß nie was hinter den einzelnen Schicksalen steckt. Das Leben ist nicht schwarz und weiß, was ich eben auch durchs Reisen lernen durfte und mich daran auch immer wieder erinnere, wenn ich in größter Flugscham versinke und nicht dankbar bin in einem so gut funktionierenden Land zu wohnen.


Quellen:

www.Wikipedia.de/weltoffenheit (letzter Zugriff: 03.10.21)

G. Enders, Darm mit Charme: Alles über ein unterschätztes Organ - aktualisierte Neuauflage | Der Bestseller über unser hochkomplexes und wunderbares Organ den Darm, Ullstein, Berlin 2017.

A. Hasters, Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten, hanserblau 2019